Arikel aus der Glocke vom 1.06.2019 (Lokalsportteil Warendorf), Autorin: Anja Tenbrock
Warendorf (ate) - Sie läuft. Und läuft. Und läuft. Meistens zwischen drei bis vier Stunden am Stück. Exakt immer dieselbe Streckenlänge: 42,195 Kilometer. Selten mehr. Durch zahlreiche Städte. Über sieben Kontinente. Mit eisernem Willen. Mit Leidenschaft. Mit Leichtigkeit.
Ulrike Wigger läuft Langstrecken. Die Warendorferin gehört in Deutschland zu einem nicht allzu großen Kreis, der auf allen sieben Kontinenten Marathon gelaufen ist – in Asien, Europa, Nordamerika, Südamerika, Afrika, Australien und der Antarktika hat sie ihre Laufschuhe geschnürt. Dafür ist sie vor einem Jahr mit der „Seven Continents Finisher“-Medaille geehrt worden – am südlichen Ende der Welt, nach einem Marathon in der Antarktis, dem für sie letzten Kontinent, der ihr für diese besondere Medaille noch fehlte.
Sechs Sterne und sieben Kontinente
Ihr Name findet sich auf der „Finishers List“ des „Seven Continents Clubs“ (SCC) von „Marathon Tours and Travel“ (Boston), einem bekannten nordamerikanischen Reisebüro für viele der weltweit beliebtesten Laufveranstaltungen. Der Reisedienstleister ermöglicht es auch, die sieben Kontinente laufend zu erobern. Der Internetseite zufolge stehen auf der „Finishers List“ im Seven Continents Club 478 Männer und 235 Frauen. Sie haben wie Ulrike Wigger den Antarktis-Marathon auf der vorgelagerten Insel King George Island zurückgelegt. Wer zum illustren Kreis des „Seven Continents-Marathon-Clubs“ mit 336 Mitgliedern (nach Angaben von „Global Running Adventures“ im Internet unter (www.icemarathon.com) gehört, ist im Landesinneren der Antarktis gelaufen.
Ulrike Wigger ist auch im Besitz der unter Hobbyathleten begehrten „Sechs-Sterne-Medaille“, die seit 2014 verliehen wird. Die bekommen nur Läufer, die die so genannten „Big Six“ – die sechs wichtigsten Marathons weltweit der „World Marathon Majors“-Serie – geschafft haben: Boston, London, Berlin, Chicago, New York, Tokio. 2006 hatten sich die fünf größten Marathons weltweit zu den „World Marathon Majors“ zusammengeschlossen. Die Hauptstadt Japans hat erst 2012 den Kreis der bis dato fünf größten Marathon-Städte komplettiert.
74 Kilometer Ultramarathon
Die Startplätze sind heiß begehrt. Rund 50 000 Teilnehmer waren es zum Beispiel im April 2019 in London. Beworben hatten sich jedoch mehr als 400 000 Menschen. In Berlin überschritten vor einem Jahr 40 650 Läufer die Ziellinie.
Im Thüringer Wald hat sich Ulrike Wigger erst kürzlich einer neuen Herausforderung gestellt. Beim Supermarathon des Rennsteiglaufs lief sie am 18. Mai mit 73,9 Kilometern ihre bisher längste Ultradistanz. 8:15:59 Stunden und 1874 Höhenmeter später erreichte die Warendorferin das Ziel in Schmiedefeld. Der Diplom-Kauffrau und Wirtschaftsingenieurin geht es nicht ausschließlich um Bestzeiten. Sie gehört nicht zu denjenigen, die sich quälen müssen; nicht zu denen, die „sich nach dem Lauf übergeben oder drei Tage lang Treppen nur rückwärts runtergehen können“, sagt sie. „Dann würde ich das nicht machen.“ Ihr geht es um etwas ganz anderes.
Laufen gehört von jeher zum Leben von Ulrike Wigger. „Ich war von klein auf der Leichtathletik zugetan“, erzählt die 39-Jährige. Damit angefangen hat die gebürtige Ennigerloherin im SuS Enniger. Heute startet die Warendorferin für den LV Oelde.
2010 mit Lauffieber infiziert
„Meinen ersten Marathon bin ich 2004 in Berlin gelaufen“, erinnert sich die Sachverständige für Immobilienbewertung. Da war sie 24 Jahre alt. Nach dem Studium kam die Idee, „einmal einen Marathon in New York zu laufen“. Das war 2010 und der Beginn einer unerschöpflichen Leidenschaft. „Ich hatte dort ein paar Marathon-Verrückte im positiven Sinne kennengelernt, und die haben mich auf die Idee gebracht, die ,World-Marathon-Majors’-Serie zu laufen.“
Danach war sie mit dem Lauffieber infiziert: Es folgten Marathonreisen nach Chicago (2011), London (2012), Boston und Berlin (jeweils 2013) sowie Tokio (2014). Daneben nahm sie an Rennen in zahlreichen anderen Städten wie Athen, Amsterdam, Rio de Janeiro, Frankfurt, Münster, Sydney, Stockholm teil – „21 Marathons sind es bisher gewesen“, fasst die Athletin zusammen. Zwei davon erfolgten über die Ultradistanz. Ihre derzeitige Bestzeit erzielte sie 2018 mit 3:23:51 Stunden in Köln.
„Zwei- bis dreimal im Jahr“ packt sie ihre Reisetasche. Zehn Wochen vorher beginne das Training: pro Woche laufe sie zwischen 70 und 80 Kilometer. Das Trainingsbuch von Lauf-Papst Herbert Steffny liege dann immer griffbereit auf dem Nachttisch. Auf den Reisen werde sie meistens von ihrem Partner begleitet, der sich dem Halbmarathon verschrieben habe.
Albtraum Boston
Drei Marathonläufe haben einen besonderen Stellenwert für Ulrike Wicker: der traurigste, der schönste und der außergewöhnlichste. Der Boston-Marathon mit 26 000 Teilnehmern wurde zum Albtraum. „Zehn Minuten, nachdem ich die Ziellinie überquert hatte, sind die beiden Bomben detoniert“, erinnert sie sich an den Sprengstoffanschlag auf das Sportereignis am 15. April 2013, bei dem im Abstand von 13 Sekunden zwei Sprengsätze auf der Zielgeraden explodierten. Drei Menschen wurden getötet und 264 weitere teils schwer verletzt. Trotzdem hat Ulrike Wigger dem Extremsport nicht den Rücken gekehrt.
Ins Schwärmen gerät sie, wenn sie an ihren Sydney-Lauf denkt: „Das ist die schönste Stadt der Welt“, findet sie mit Blick auf die einzigartige Kulisse der größten Stadt Australiens, die mit ihren zahlreichen Sehenswürdigkeiten wie Harbour Bridge, Opera House oder Hyde Park punktet.
Herausforderung im ewigen Eis
Unvergesslich wird die Reise in die Antarktis im März 2018 bleiben. Sie begann am Ende der Welt. Schon die Anreise war ein Abenteuer: „Zuerst ging es nach Buenos Aires und mit dem Flugzeug weiter nach Ushuaia in Argentinien, der südlichsten Stadt der Welt. Wir waren 200 Läufer und wurden dort auf zwei Expeditionsschiffe verteilt, denn nur 100 Personen dürfen in der Antarktis pro Tag an Land gehen. Nach zwei Seetagen mit ordentlich Wellengang haben wir die antarktische Halbinsel erreicht“, erzählt sie.
Bei Minusgraden zwischen acht und zehn Grad und Schnee haben die Sportler die 42,195 Kilometer bewältigt. Die Strecke war als Wendepunktstrecke angelegt. „Sechsmal“ ist Ulrike Wigger „über hügeliges und teils vereistes Terrain hin- und hergelaufen. Vier Stunden, 29 Minuten“ hat sie für die anspruchsvolle Strecke gebraucht.
Geblieben sind einzigartige Bilder eines Reichs im ewigen Eis: „Wir haben Wale in berührbarer Entfernung beobachtet, Pinguine in greifbarer Nähe erlebt, gigantische, aus dem Meer ragende und im Licht funkelnde Eisberge gesehen.“
Laufen und Reisen
Es geht nicht nur um sportliche Extremleistungen. Marathon zu laufen, das ist für Ulrike Wigger viel mehr als Kilometer zu schrubben und Medaillen zu sammeln. Es ist eine einzigartige Kombination aus Laufen und Reisen, die das Leben der Warendorferin bereichert: „Ich bin begeistert davon, laufend die Welt zu erleben“, bringt sie es auf den Punkt. Leiten lässt sie sich von der uralten Konfuzius-Weisheit „Der Weg ist das Ziel“. In vielerlei Hinsicht.
„Man lernt so viele Menschen kennen, trifft auf Gleichgesinnte, knüpft Kontakte, auch international, baut Freundschaften auf.“ Für die eingeschworene Marathon-Gemeinschaft kommt das Sportevent einem Festival gleich und entsprechend „einmalig ist die Stimmung“, schwärmt sie. „Wir sind ein Team, das sich zusammen die Welt anschaut, zusammen läuft und hinterher die Erfolge zusammen feiert. Marathons dienen definitiv der Völkerverständigung.“
Am Wegesrand wiederum liegen atemberaubende Sehenswürdigkeiten der Metropolen dieser Welt, die es nebenbei zu bestaunen gilt. „Zwischen Laufen und Reisen bilden sich Synergien“, meint die Extremsportlerin. „Der Marathon macht die Reise besonders, denn ich muss mich lange darauf vorbereiten. Aber auch der Marathon wird dadurch aufgewertet, denn durch die damit verbundene Reise zu traumhaften Orten ist der Ansporn noch größer, das Ziel zu erreichen.“
Lange Strecken als Kopfsache
Aber auch eine gute Vorbereitung garantiert noch lange keinen Erfolg. „In erster Linie braucht es den Willen, das Ziel zu erreichen“, weiß Ulrike Wigger. Der Marathonlauf ist vor allem „eine mentale Herausforderung. Lange Distanzen läuft man in erster Linie im Kopf“, betont sie. Das heißt für sie: „Sich selbst motivieren, Zwischenziele setzen, positive Gedanken haben, locker bleiben und sich zugestehen, auf der Strecke auch einmal zu gehen, wenn die Kraft nachlässt. Ich versuche immer, mit Vernunft an die Sache heranzugehen und zu sehen, was als Bestmögliches zu erreichen ist. Dafür habe ich einen Plan. Meine Grenzen kenne ich. Wenn der Plan aufgeht, ist mein Ideal erreicht.“ Das Ziel auch. Aber: „Es hört nie auf. Es gibt noch so viele Ziele, so viele Herausforderungen.“ So lange ihre Füße sie tragen können, will sie laufen. Und laufen. Und laufen.